Fischers Schreibbude!
FischersSchreibbude! 

    Schreiben gegen das Abgeschriebensein

Eine biografisch-kreative Schreibwerkstatt

mit Langzeitarbeitslosen in Theorie und Praxis

 

 

Klappentext:

 

Langzeitarbeitslosigkeit – Massenschicksal für ca. eine Million Deutsche. Die systembedingte Krisenlage soll von ihnen individuell gemeistert werden. Hilfe bleibt aus, gesellschaftliche Ursachen werden in persönliche umgedeutet. Maßnahmen beschränken sich darauf, die Systemverlierer in ihrer Fähigkeit zu trainieren, sich besser auf dem Arbeitsmarkt verkaufen zu können. Aber nur wenige können dadurch ihre Attraktivität für den Arbeitsmarkt steigern, der Großteil bleibt dauerhaft arbeitslos. Die Frage, welche Auswirkungen Langzeitarbeitslosigkeit auf das Selbstwertgefühl von Betroffenen hat, bleibt ausgeblendet. Psychosoziale Unterstützung wird bestenfalls in Selbsthilfegruppen oder Nischenangeboten Sozialer Träger angeboten – weit unter dem Bedarf.

Dieses Buch richtet sich an alle, die mit Langzeitarbeitslosen das Biografische und Kreative Schreiben als Unterstützungsangebot nutzen wollen. Zunächst wird das Phänomen Arbeitslosigkeit in seinen Dimensionen und psychischen Wirkungen dargestellt. Ausgehend davon wird ein auf Bedürfnisse und Fähigkeiten der Zielgruppe zugeschnittenes Konzept entwickelt. Die Wiederentdeckung eigener Erfolgsstrategien und die Stärkung des verlorenen Selbstwertgefühls stehen dabei im Mittelpunkt; es soll ein emanzipatorischer Prozess bei den Teilnehmenden angestoßen werden. Der zweite Teil dokumentiert ein Pilotprojekt, das auf Grundlage des erarbeiteten Konzepts umgesetzt wurde. Konzeptannahmen und didaktische Einheiten werden auf Plausibilität und Wirksamkeit geprüft.

Für die Schreibpädagogik wird hier ein neues Arbeitsfeld erschlossen, interessierten Schreibpädagogen, Quereinsteigern in die Schreibgruppenleitungstätigkeit, Sozialpädagogen und anderen in der Erwachsenenbildung Tätigen eine Orientierungsmöglichkeit für eigene Angebote gegeben. Dieses Buch kann als Leitfaden dienen. Geografische Besonderheiten, spezielle Lebenslagen potenzieller Teilnehmender und fachliche Voraussetzungen von Schreibgruppenleitungen sind jedoch als Variablen jeweils zu berücksichtigen.

 

BoD, Norderstedt 2016, 232 Seiten,

Broschur, ISBN/EAN: 9783839162262, Preis:12,95 €

EBOOK: ISBN: 9783741220647, Preis: 8,99 €

 

 

 

Leseprobe:

 

Problemaufriss zur Langzeitarbeitslosigkeit

Meine Sozialisation, eigene Segregationserfahrungen und eine daraus resultierende skeptische Grundhaltung gegenüber dem Mainstream gesellschaftlicher Botschaften und Lösungsvorstellungen, wie sie über den Hauptteil öffentlicher Medien verbreitet werden, lassen mich zu diesem Themenkomplex eine kritische Haltung einnehmen.

Aus soziologischer Sicht ist die Gruppe der Langzeitarbeitslosen besonders gefährdet, mit zunehmender Dauer ihrer Arbeitslosigkeit in einen Teufelskreis zu geraten (vgl. Negt (1), 2008, S. 241 ff.). Diejenigen, die eine für den Arbeitsmarkt verwertbare Ausbildung aufweisen können und vorher auch erfolgreich nutzen konnten, nun jedoch mit Arbeitslosigkeit konfrontiert werden, empfinden dies häufig zunächst als wenig besorgniserregend. Nicht wenige sehen dies sogar als temporäre Befreiung und Chance zum Durchatmen nach längerer körperlicher und geistiger Überanstrengung und nutzen es entsprechend.

Wenn sich dann aber individuell die Zeichen für eine Problemlage mehren; wenn zunehmend realisiert wird, dass aus einer kurzen, vermeintlich leicht zu überbrückenden Arbeitspause ein längerer oder gar endgültiger Ausschluss von der Arbeitswelt zu werden droht; wenn zunächst hoffnungsvoll an die einschlägigen Arbeitgeber gerichtete Bewerbungen immer wieder erfolglos verlaufen; wenn auch Zugeständnisse wie die Ausrichtung auf berufsfremde Tätigkeiten und/oder schlechtere Entlohnung nichts nützen; wenn nach dem Arbeitslosengeld I nur noch das Arbeitslosengeld II bleibt; wenn letztlich dadurch nicht einmal die Wahl zwischen prekärer Beschäftigung und weiterer Arbeitslosigkeit gelassen wird, weil die Arbeitsagentur mit ihren gesetzlichen Zwangsmitteln droht, durch die materielle Not verschärft wird; wenn die materielle Notlage das eigene Leben und das der Familienangehörigen beeinträchtigt; wenn neben die materielle Not die Erklärungsnot gegenüber der sozialen Umwelt tritt; wenn schließlich dieses ausweglose Bündel von Frustrationen in eine psychische Notlage mündet, dann ist der Erhalt des bisher erworbenen Selbstwertgefühls, das sich in dieser Arbeitsgesellschaft – bedingt durch eine entsprechende Sozialisation – bei den meisten Betroffenen immer noch über die Arbeit definiert, zunehmend gefährdet. Die Schuld daran suchen die Betroffenen dann oft bei sich selbst. Typische eigene Erklärungsmuster zu ihrem Versagen sind dann ungenügende Attraktivität für den Arbeitsmarkt aufgrund des Alters, der veralteten Berufskenntnisse und letztlich der langen Arbeitslosigkeit.

Ein Trauma wird langläufig definiert als ein plötzliches, nicht vorhergesehenes Unglück. Langzeitarbeitslose jedoch erleben dieses Unglück zeitlich verzögert. Sie realisieren es vermutlich oft erst dann, wenn ihre soziale Ausgrenzung mit allen negativen Auswirkungen vollständig ausgeformt ist – und Selbsttäuschungsmechanismen können diese Realisierung sogar noch hinauszögern. Wer in einer solchen Abwärtskarriere gefangen ist, weist potenzielle Arbeitgeber nicht nur über die Daten in seinem Lebenslauf darauf hin, sondern oft auch mit einem unsicheren, von Versagensängsten und einem gewachsenen Minderwertigkeitsempfinden bestimmten Auftreten in Bewerbungssituationen. In Verbindung mit dem Nachweis des Versagens über die Personaldaten ist ein solches Auftreten häufig Grund genug für Personalverantwortliche, von einer Einstellung abzusehen. So schließt sich der Teufelskreis. Langzeitarbeitslose befinden sich dann in einer Lebenskrise, die es zu bewältigen gilt und in der sie auf Hilfe von außen angewiesen sind – und dies von einer Gesellschaft, die sie solchen Mechanismen aussetzt und dadurch ihre Würde verletzt.

Langzeitarbeitslose sind einem doppelten psychosozialen Druck ausgesetzt: Hegemoniale gesellschaftliche Deutungsmuster wirken von außen ein, daraus entwickelte internalisierte Denk- und Handlungsmuster im Zusammenwirken mit einer manifestierten materiellen Notlage erzeugen synergetisch eine Lähmung der Handlungsfähigkeit. Angebote der Schreibgruppenpädagogik könnten dagegen eine Orientierungshilfe sein und die Möglichkeit zur Besinnung auf eigene Stärken darstellen. Hier bietet sich prinzipiell ein Ansatz, Lebenskrisen zu bearbeiten und Selbstheilungskräfte bei den Betroffenen zu wecken, mit denen sie Copingstrategien entwickeln, zunehmend Resilienz erwerben und ihr lädiertes Selbstwertgefühl stärken können. In einer geschützten Gruppensituation eigenen psychosozialen Druck zu mindern, indem man sich z. B. über Biografiearbeit eigener, teilweise verschütteter Fähigkeiten und Stärken rückerinnert, bietet eine Chance, erste Schritte zu gehen, sich von den gesellschaftlich auferlegten Zwängen zu emanzipieren. Wer über das Schreiben die eigene Lage reflektiert, kann neue Perspektiven einnehmen. Die gesellschaftlich vermittelte Botschaft, dass Betroffene an ihrer Lage selbst schuld seien, wäre so individuell relativierbar.

Wenn das Erleben von Langzeitarbeitslosigkeit somit – individuell unterschiedlich ausgeprägt – psychosozialen Druck bei den Betroffenen bewirkt, provoziert dies die Frage, wie solcher Druck durch äußere Unterstützung gemindert werden kann. Der weit überwiegende Teil gesellschaftlich organisierter Hilfeangebote für Langzeitarbeitslose verfolgt bisher vornehmlich zwei Zielrichtungen: Geboten werden dieser Zielgruppe einerseits Unterstützungsmaßnahmen zur Wiedererlangung einer Erwerbstätigkeit mit dem Ziel der Erhöhung ihrer Attraktivität für potenzielle Arbeitgeber und andererseits Hilfen zur Milderung ihrer aus der Arbeitslosigkeit resultierenden materiellen Notlagen. Psychosoziale Hilfen zur Linderung der aus dem Erleben von Langzeitarbeitslosigkeit erwachsenen seelischen Not sind hingegen nur marginal im Angebot. Sie werden signifikant unterhalb des Bedarfs vorgehalten, bei den Förderungsmöglichkeiten der Arbeitsagentur spielen sie keine Rolle (vgl. Bundesagentur für Arbeit: Broschüre Arbeitslosengeld II, Sozialgeld, http://www.arbeitsagentur.de/zentraler-Content/Veroeffent-lichungen/Merkblatt-Sammlung/SGB-II-Merkblatt-Alg-II.pdf, 30.10.2013).

Langzeitarbeitslosigkeit wurde seit Beginn der Dauerkrise 1975 wieder zu einem Massenschicksal. Versuche, dies staatlicherseits mittels euphemistisch interpretierter Statistiken zu verschleiern und kleinzureden, werden zunehmend auch für Betroffene erkennbar. Doch statt gesellschaftlicher Solidarität und dem Organisieren einer notwendigen Gegenwehr macht sich Fatalismus breit, und das St.-Florians-Prinzip greift auch hier: Man will verschont bleiben, arbeitslos sollen andere sein. Dies mag ein uneingestandener Grund sein, weshalb psychosoziale Hilfen für Langzeitarbeitslose quantitativ weit unterhalb der Notwendigkeitsschwelle angeboten werden. Faktisch wird ein Problem, das alle abhängig Beschäftigten berührt, von den derzeit noch nicht Betroffenen weitgehend ignoriert und tabuisiert.

 

 

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